Schneider: Nun, im Alltag der Menschen hat man bisher nicht viel mitbekommen. Natürlich hat sich ausgewirkt, dass westliche Kreditkarten in Russland nicht mehr verwendet werden können, dass russische Kreditkarten im Westen nicht mehr akzeptiert werden. Viele westliche Unternehmen haben Russland verlassen, etwa Ikea oder McDonald’s. Aber das sind Dinge, die dich im Alltag eigentlich nicht dazu gebracht haben, etwas zu fühlen. ORF: Bedeutet das, dass sich im Alltag eigentlich nichts geändert hat? Sind alle Produkte verfügbar? Sind alle Lebensmittel vorhanden? Und sind die Preise trotz Krieg noch angemessen? Schneider: Die Preise sind seit dem Frühjahr stark gestiegen. Der Rubel stürzt seit einiger Zeit ab. Das spürt man bereits im Alltag. Aber es ist nichts, was die Menschen jetzt massiv einschränken würde. Ich denke, das wird in den nächsten Monaten passieren, wie gesagt, wenn es zu Entlassungen kommt, vielleicht zu Massenentlassungen. Nun gibt es Ökonomen, die sagen, dass die russische Wirtschaft in der zweiten Jahreshälfte stärker einbrechen wird. Im ersten Halbjahr lief es für die russische Wirtschaft eigentlich viel besser, als der Westen dachte. So wurde auch in Russland selbst gedacht. Offensichtlich sind diese Sanktionen wirklich eine tickende Zeitbombe, die nicht sofort, sondern sehr spät explodieren wird. ORF: Zu Beginn des Krieges konnte man noch Bilder sehen, auch bei uns im Fernsehen, beim ORF, von Menschen in Russland, die gegen den Krieg auf die Straße gingen und geschlagen und verhaftet wurden. Gibt es noch solche Proteste gegen diesen Krieg? Schneider: Die gibt es fast nicht mehr. Es gibt noch ein paar. Dies wird Einzelwache genannt. Offiziell ist nach russischem Recht die einzige Form des Protests erlaubt, alleine da zu stehen und zum Beispiel ein Plakat oder einen Zettel hochzuhalten. Aber auch sie werden sofort entfernt und festgenommen. Viele haben einfach Angst. Auch, dass, wenn sie öffentlich im Supermarkt oder im Bus oder in der U-Bahn die Regierung kritisieren, sie dich verraten, sagen wir, dass du dann auch verhaftet wirst. Das heißt aber nicht, dass jetzt das ganze Volk gegen Putin ist. Die überwiegende Mehrheit scheint damit zufrieden zu sein. Einige von ihnen haben das Gefühl, dass sie dies sowieso nicht ändern können. Es gibt auch einige Unterstützer, die der russischen Propaganda glauben, die hier im Fernsehen ausgestrahlt wird. Wir dürfen nicht vergessen, dass alle Unabhängigen, sowieso nicht viele gegangen sind, aber alle unabhängigen Medien sind jetzt geschlossen, verboten, des Landes verwiesen, verhaftet. ORF: Welche Rolle spielt der Krieg derzeit in den pro-russischen Medien? Machen sie noch aktiv Werbung, suchen sie noch wie am Anfang nach Soldaten, die für diese “Aktion” benötigt werden? Schneider: Natürlich gibt es ständig Berichte, aber aus dieser propagandistischer Sicht wird berichtet, dass Russland in der Ukraine eine gerechte Sache verteidigt, dass das Ganze gar kein Konflikt mit der Ukraine ist, sondern mit dem Westen. Natürlich werden Fußsoldaten immer noch beworben. Einige der russischen Städte haben solche Stände, wie in Wahlkampfkabinen, wo russische Männer gebeten werden, lukrative Verträge zu unterzeichnen, einschließlich Reservisten, als Gegenleistung dafür, dass sie die russische Armee in die Ukraine locken. Und es wird sogar in russischen Gefängnissen geworben. Gefangenen wird Begnadigung versprochen, wenn sie in die Ukraine gehen, um zu kämpfen. Und das alles zeigt natürlich, wie groß die Not ist. Allerdings scheint Präsident Putin nicht den Mut zu haben, jetzt eine allgemeine Wehrpflicht anzukündigen, also alle russischen Männer im wehrfähigen Alter sozusagen per Gesetz an die Front zu rufen. Er hat wahrscheinlich das Gefühl, dass dies unglaublich unpopulär wäre.